Abstieg: Schweizer U18-Desaster mit Ansage

Text von Thomas Roost, Header-Fotos: zvg/nhl

-

Unsere U18-Nati hat an der WM schwer enttäuscht. Am Ende resultiert der bittere Abstieg in die zweite Division. Zwei Niederlagen (USA und Schweden) mit je 10 Gegentoren, Niederlage gegen Deutschland, Niederlage gegen Tschechien, Niederlage gegen Norwegen und zwei Niederlagen in den Vorbereitungsspielen gegen die Slowakei und Kanada. Ein Desaster von A-Z.

Der Abstieg hat bittere Folgen für die eigentlich mehr versprechenden U17-Spieler, die in einem von den NHL-Scouts kaum beachteten Umfeld den Wiederaufstieg anpeilen müssen. Es ist leider ein Abstieg mit Ansage, denn bereits in den Vorjahren wären wir immer stark abstiegsgefährdet gewesen, falls die Teams aus Russland und Belarus nicht ausgesperrt worden wären.

Und jetzt sogar der Supergau: Russland und Belarus fehlen noch immer und wir haben es trotzdem nicht geschafft: Lettland, Norwegen, die Slowakei, Deutschland. Nicht ein einziges dieser Teams konnten wir hinter uns lassen.

Der Drahtseilakt unserer Juniorenausbildung

Die Juniorenkrise kommt nicht von ungefähr, sie ist eine logische Folge der NHL-Draftergebnisse in den letzten fünf Jahren. «Houston, we have a problem»… und dies bereits seit Jahren. Ich weiss, ich wiederhole mich, aber der erneut erhobene Mahnfinger ist so lange berechtigt bis sich die Situation verbessert.

Lassen wir Fakten, lassen wir Zahlen sprechen:

NHL-Draftzahlen im internationalen Vergleich

Anzahl NHL-Draftpicks in den letzten fünf Jahren:

  1. CAN – 426 Draftpicks – ca. 362'000 Junioren

  2. USA – 233 – 320’000

  3. SWE – 129 – 44’000

  4. RUS – 119 – 82’000

  5. FIN – 80 – 35’000

  6. CZE – 45 – 25’000

  7. SLK – 18 – 9’000

  8. GER – 11 – 14’000

  9. SUI – 9 – 16’000

  10. AUT – 8 – 3’300

Diese Zahlen sind aus Schweizer Sicht höchst unbefriedigend. Vorausgesetzt, dass die Juniorenausbildung in unserem Land qualitativ gleich gut ist wie in den anderen Nationen, dann müsste – der Logik folgend – die Schweiz z. B. im Vergleich zu Finnland und Schweden ungefähr 40 Draftpicks haben.

Der Vergleich mit der Slowakei und Österreich? Kein Kommentar.

Das Erstrunden-Debakel

Ok, es gibt auch noch andere Betrachtungsweisen und eine davon besagt, dass Spätrundenpicks hinsichtlich Weltklassespieler kaum von Relevanz sind. Das Ziel muss sein, möglichst viele Erstrundenpicks zu produzieren, um langfristig eine Weltklasse-Nationalmannschaft stellen zu können.

Anzahl 1st-Runden-Picks im NHL-Draft in den letzten fünf Jahren:

CAN – 74

USA – 26

SWE – 18

RUS – 16

FIN – 5

SLK – 5

AUT – 3

GER – 2

SUI – 1

Auch hier ist der Vergleich im Verhältnis zu den lizenzierten Junioren alles andere als erfreulich. Die Slowakei und Österreich, mit nur einem Bruchteil Anzahl Junioren, liegen klar vor uns.

Es ist keine mutige Aussage, wenn ich davon ausgehe, dass auch im kommenden Juni kein Schweizer Erstrundenpick gezogen werden wird.

Late Bloomer – Entschuldigung oder Realität?

Eine sachliche Analyse erfordert folgende Relativierung: Ich sehe es oft – und dies ist sportartenübergreifend – dass Schweizer Athleten tendenziell relative Spätzünder sind, sogenannte «Late Bloomer». Dies hängt vermutlich auch mit unserem schulischen und beruflichen Ausbildungssystem zusammen.

Das erklärt aber nur einen Bruchteil der schlechten Zahlen – und die Zahlen sind Fakten, meine Relativierung ist nur eine These.

Der Blick auf die Gegenwart: Hoffnungsträger und Realität

Aktuell leben wir von unseren Topshots in der NHL wie Josi, Niederreiter, Hischier, Fiala, Meier, Siegenthaler, Suter, Moser. Josi und Niederreiter kommen in den Spätherbst ihrer Karrieren. Die anderen sind noch für einige Jahre auf dem «Peak» ihrer theoretischen Leistungsfähigkeit.

Das heisst, unsere Nati wird noch für einige Jahre kompetitiv sein – mit ganz leichter, aber nachhaltiger Tendenz nach unten. Was hingegen danach kommt, ist aus heutiger Sicht sehr dünn.

Ein Blick in die Zukunft – und er ist trüb

Mit Lian Bichsel haben wir immerhin einen Defender, der das Potenzial zum Leistungsträger in der Nati hat. Und mit Jahrgang 09 dürfen wir Hoffnungen bei Jonah Neuenschwander auf einen Erstrundenpick hegen. Der Jahrgang 08 scheint aus heutiger Sicht spürbar besser zu sein als die Jahrgänge 05, 06 und 07.

Dies sind aber Aussichten, die auch von uns oft kleingeredeten Nationen wie Deutschland, Österreich, Belarus, Dänemark, Norwegen, Lettland haben werden. Auch bei den von Experten erstellten Listen der weltweit besten U23-Spieler findet sich ausser Bichsel kein Schweizer.

Wir befinden uns somit mitten im Teich der Kleinen. «Houston, we really have a problem.»

Jonah Neuenschwander

Foto: Jonah Neuenschwander
Fotocredits: Waltraud Blaurock    

Der fatale Trugschluss vom Erfolg

Weil unsere Liga floriert und die Nati Jahr für Jahr gegen Zweit- und Drittauswahlen der Topnationen um Medaillen spielen kann, ist der Blick für die substanzielle Zukunft extrem getrübt. Niemand interessiert sich für die U20 – und schon gar nicht für die U18-Nati, solange wir bei Weltmeisterschaften um Medaillen spielen können.

Ein klassisches Beispiel von «Erfolg macht lernbehindert».

An alle Skeptiker meines Mahnfingers: Meine Stimme ist vergleichsweise nicht so ganz gewichtig, mit dieser Demut lebe ich. Achtet aber mal auf «Statements» zu diesem Thema von z. B. Nino Niederreiter. Auch er sorgt sich um die Zukunft im Schweizer Eishockey.

Was jetzt? Ein echter Weckruf?

Das seit Jahren dahindümpelnde Schweizer Junioreneishockey wurde auf Stufe der Verantwortlichen gefühlt schulterzuckend und als Nebensächlichkeit quittiert und eingestuft. «Wir haben ja eine prächtige Nati, eine florierende Liga, wir sehen kaum Probleme im Nachwuchs...»

Echte Reformen? Fehlanzeige. Selbstkritische Analysen, mutige neue Wege in der Juniorenausbildung, Investitionen in der Trainerausbildung? Meistens nur Kosmetik. Viel Papier und keine Resultate.

Dies das vernichtende, vielleicht etwas zu polemische Fazit. Einmal mehr… der Leidensdruck war nicht gross genug, um uns grundsätzlich zu hinterfragen.

Fazit: Chropfleeretä dringend nötig

Jetzt der Abstieg: Hoffentlich das Startsignal zu einer «Chropfleeretä» und selbstkritischen Analysen im Verband und in den Clubs. Wir sind definitiv zu selbstgefällig geworden, «fat and happy»… und jetzt das böse Erwachen.

Es ist ganz bitter, dass wir mit unseren vergleichbar überdurchschnittlichen Mitteln und der Infrastruktur (z. B. im OYM, in Zürich, in Davos), in Zusammenarbeit mit der Sportwissenschaft und mit mehr lizenzierten Junioren als in Norwegen, Lettland, Deutschland, Österreich und der Slowakei, derartige Resultate ertragen müssen.

Und für einmal kommt diese Kritik nicht von einem billigen Nachkriegsgeneral. Seit Jahren tönen meine Saisonschlusskommentare zum Juniorenhockey mehr oder weniger ähnlich. Und noch einmal: Fragt mal Nino Niederreiter.

 

Thomas Roost ist seit 1996 NHL-Scout für den Central Scouting Service und verfolgt die beste Liga der Welt hautnah.
Für MySports ist Roost als NHL-Experte & Co-Kommentator im Einsatz.
In seiner wöchentlichen Kolumne «Roosts Ramblings» schreibt er über Themen aus der NHL und der grossen Hockey-Welt.

https://www.thomasroost.com I X: @thomasroost