Eine etwas unbequeme Schweizer WM-Analyse

Scheitern und Erfolg haben immer viele Gründe und sehr oft kennt man die Gründe nicht, oder meint sie zu kennen, sie stimmen aber nicht. Unpopuläre Wahrheiten sind, dass nicht nur im Eishockey vieles uneindeutig ist und das Glück – bei mehr oder weniger gleich starken Kontrahenten - entscheidender ist als die Fähigkeiten.

Ganz kurz meine Spielanalyse

Die Schweiz hat sehr gut begonnen und hat in den Startminuten dominiert. Aufgrund der Qualität der Kader war die Schweiz – mit Malgin - 60-40 Favorit. Dann passierte etwas Ungewöhnliches, ein Unglück, «adversity» in der Hockeysprache: Der Fehler von Mayer; dies hat unser Team bis ca. Spielmitte belastet und tendenziell verunmöglicht, dass wir in Führung gehen konnten, was als Favorit wichtig gewesen wäre, immerhin gelang der Ausgleich. Je länger ein Spiel unentschieden steht, desto unvorteilhafter die Psychologie für den Favoriten.

Die zweite entscheidende Szene war die 5-Minutenstrafe gegen Seider, in deren Powerplay ich Denis Malgin schmerzlich vermisst habe. Der dritte Meilenstein im Spiel war das Weltklassetor von J.J. Peterka, nichts zu machen, dies war schlicht und einfach supergut gespielt. Guter Pass von Kahun auf Peterka, eine kleine, aber sehr wirkungsvolle Finte, gefolgt von einem Klasseschuss, Respekt!

Die vierte und am meisten richtungsweisende Szene war der Shorthander der Deutschen. Erneut ein ungewöhnlicher, leidvoller Eigenfehler der Schweiz: Zwei Eigenfehler (zweimal «adversity», ein Weltklassegegentor, wirkungsloses Powerplay ohne Malgin. Diese Zwischenfälle mit ungewöhnlichen Eigenfehlern ist bei allen Mannschaften nicht selten gesehen, in einem WM-Viertelfinal – es zählt nur ein einziges Spiel – hat dies ganz einfach unglaublich krasse Folgen.

Hier sind wir jetzt beim Modus. Ein Modus, in dem ab Viertelfinal in einem einzigen Spiel alles entschieden wird, ist sportlich gesehen unfair. Wir, die Schweiz, haben jahrelang davon profitiert, denn dieser Modus ermöglichte es uns auch als Aussenseiter, erstaunliche – aber im Big Picture unverdiente - Resultate zu erzielen. Jetzt sind wir in der Favoritenrolle und jetzt schlägt das Pendel zurück. Als Favorit ist dieser Modus nachteilig. Dieses Mal sind wir in der Gesamtbetrachtung des Turniers unverdient früh ausgeschieden.

Die Psychologie der Favoritenrollen, resp. des Aussenseiters

Waren wir Favoriten in diesem Turnier? Ja, aufgrund der Besetzung der Kader gehörten wir zweifelsohne zu den Mitfavoriten und die Gruppenspiele haben dies auch bestätigt. Was mir nicht gefallen hat, ist das überall verbreitete Schönreden unseres Hockeys. Viel warme Luft, wie sich im Viertelfinale gezeigt hat. Beispiele: «Wir haben den Formaufbau gezielt auf die zweite Woche hin geplant.» Das Resultat, genau das Gegenteil ist eingetroffen. Dies muss der Coachingstaff erklären. «Wir haben aus den vergangenen Pleiten bei den Viertelfinals gelernt und sind mental stärker geworden». Auch hier: Bitte eine Erklärung des Coachingstaffs. «Wir sind so viel besser geworden in den letzten Jahren und sind jetzt auf Augenhöhe mit den Grossen». Stimmt, aber leider nur, wenn die Grossen mit ihren zweiten und dritten Garnituren antreten und wir immerhin mit dem Kader 1b, nur Roman Josi und Timo Meier haben bei uns als Unterschiedspieler gefehlt.

Die Schweiz hätte noch immer einige Argumente, sich als Aussenseiter darzustellen und dies ist auch eine Rolle, die der Schweizer Mentalität gut ansteht. Als Aussenseiter sind wir am gefährlichsten. Leider geben wir diese für mich gewünschte Rolle seit Jahren nationalmannschaftsintern kommunikativ, aber auch medial preis, völlig unnötig, wie ich meine. Eine Winnermentalität kann man sich nicht einreden, da hilft auch der beste Mentalcoach nicht. Eine Winnermentalität entwickelt sich nur durch eigens erbrachte Leistungen, durch Erfolge. Erst wenn wir mal eine oder zwei Goldmedaillen nach Hause gebracht haben, dann haben wir ein Fundament für eine Winnermentalität gelegt.

Deutschlandkomplex

In vielen Teilen der Bevölkerung, aber auch unter Teilen der Experten geistert noch immer das Deutschlandgespenst herum «die haben irgendwie einfach ein Winner-Gen, das Gewinnen verankert in der DNA». Solange diese Unwahrheit in unseren Köpfen rumgeistert, werden wir bei jedem Gegentor, bei jeder Widrigkeit gegen die Deutschen ins Zittern und ins Hadern kommen. Fakt ist: Deutsche Athleten haben weder mehr noch weniger ein Gewinner-Gen als andere Nationen. Selbst der Fussball wird dabei als Beweis für das so genannte Gewinner-Gen portiert. Fakt ist aber auch hier: Die Schweiz war an den letzten drei Grossanlässen (WM und EM) selbst im Fussball – wo wir auf dem Papier das eher schwächere Team haben als die Deutschen - jeweils vor Deutschland klassiert. 

Das Fehlen der Besten

Es ist mir in der medialen Berichterstattung aufgefallen, dass die Kaderbesetzung der grossen Nationen kaum je ein Thema war. Fakt ist: Noch nie sind die grossen Nationen mit derart schwachen Spielerkadern an einer WM angetreten. Gefühlt wird dieses leide Szenario von Jahr zu Jahr schlimmer und das Fehlen der Russen und von Belarus trägt auch nicht zur Niveauverbesserung bei. Dieses Fehlen der Topspieler aus den grossen Nationen ist der Hauptgrund, warum die Schweiz im Vergleich an diesen Turnieren besser ausschaut als früher.

Dass unser Eishockey besser geworden ist, stimmt auch, aber dies ist nicht der Hauptgrund, wieso wir jetzt zweimal hintereinander die Gruppenphase dominiert haben. Die IIHF hat eine Riesenbaustelle und ich erwarte, dass sie dieses Problem früher oder später prioritär anspricht und wenigstens ansatzweise löst. Der internationale Eishockeyverband ist vermutlich der einzige Sportverband, der es nicht schafft, an Weltmeisterschaften die besten Athleten präsentieren zu können, oder wenigstens einen guten Teil der besten Athleten.

Die NHL wird dabei als Hauptgrund genannt. Aber die IIHF soll mir mal erklären, wieso sie es an diesen WMs nicht schafft, die grosse Mehrheit der besten Spieler der ausgeschiedenen Teams zum Mitmachen zu bewegen. In diesem Jahr waren es die Vegas Golden Knights, die Florida Panthers, die Dallas Stars und die Carolina Hurricanes, die aufgrund des Playoff-Erfolgs keine Spieler abstellen konnten. Wo aber blieben die besten Spieler der restlichen 28 Teams?  Wo waren z.B. bei CAN und den USA McDavid, Crosby, MacKinnon, Point, Stamkos, Tavares, Makar, Jack und Quinn Hughes, Matthews, Thompson, Brady Tkachuk, Keller, Gaudreau, Larkin, McAvoy, Jones, Hellebuyck? Ich verzichte jetzt an dieser Stelle aufzuzählen, welche potenziellen Spieler bei Schweden, Finnland und Tschechien gefehlt haben, die Liste wäre endlos.

Zurück zum Turnier: Norwegen gewinnt gegen Kanada, Lettland schlägt Tschechien in den Gruppenspielen und gegen die USA im Bronzespiel. Dies sind zwar sympathische Resultate aus Sicht der Kleinen, sind aber auch Indizien für die Aussage, dass die Topnationen schwach besetzt waren. Fakt ist: Beim Finalisten Kanada würde kein einziger der WM-Auswahl 2023 für die «richtige» kanadische Nationalmannschaft nominiert und für die USA gilt dasselbe.

Das Verkaufen unseres Eishockeys

Medial wird der sportbegeisterten Schweizer Oeffentlichkeit eine Mogelpackung verkauft, nämlich, dass wir im Eishockey zu den Weltbesten gehören, «wir haben den charismatischsten Coach, den besten Kommunikator, die beste Stimmung im Team, unsere Liga ist die beste in Europa, unsere Spieler sind top und es macht ganz einfach Freude»… alles ist super, alle haben sich gern, die Grundstimmung ist mir tendenziell zu anbiedernd. Kaum kritisch konstruktive Stimmen und dabei vermisse ich nicht die unfairen Attacken auf den Mann, sondern lediglich der Versuch des «sachlichen Aufzeigens was ist».

Meiner Meinung nach sinnvoll wäre: Ja, wir haben Fortschritte gemacht und wir müssen uns nicht verstecken, aber wir dürfen die Augen vor der Realität nicht verschliessen und wir müssen uns immer vor Augen halten, dass wir nicht gegen Kanada oder Tschechien gewonnen haben, sondern gegen Kanada III und Tschechien II. Dieses übersteigerte Schönreden und das gegenseitige auf die Schultern klopfen ist dem Erfolg nicht förderlich, es hemmt ihn. Wir gehören im Welteishockey nicht zu den Weltbesten, so gerne ich es auch hätte. Dieses «Sand in die Augen streuen» führt in der Oeffentlichkeit zu einer überdimensionierten Erwartungshaltung und zu einer falschen Realitäts-Wahrnehmung: «Wir haben das klar bessere Team als die Deutschen».

Realität war: Wir hatten ein besseres Team als die Deutschen, mit dem Fehlen von Malgin hat sich dieser Vorteil aber zu «wir haben ein leicht besseres Team als die Deutschen» nach unten korrigiert. D.h. ein 55 zu 45 Spiel war zu erwarten und dies war es denn auch meiner Meinung nach. Leider haben uns die unerwarteten Zwischenfälle (Mayer-Fehler, das Fehlen von Malgin im Powerplay, erstaunlicher Fehler beim Shorthander) das Genick gebrochen. Ich meine, die beste Werbung ist immer ehrliche Werbung und keine Mogelpackung. Es gibt genügend positive Aspekte in unserem Eishockey, um unseren geliebten Sport positiv zu verkaufen. Es zeugt aber nach wie vor von mangelndem Selbstbewusstsein, wenn wir alles schönreden und Luftblasen verkaufen. Irgendwann schlägt uns dies um die Ohren.

So, genug kritisiert… heute ist der erste Tag für die kommende Saison. Ein neuer Anlauf für mehr Erfolg. Mein Traum ist eine Schweizer Medaille an einer WM mit den besten Spielern der Welt. Bei diesem dem Zufall holden Modus ist eine Medaille auch unter diesen von mir gewünschten erschwerten Umständen immer mal möglich, vor allem als Aussenseiter, denn als Aussenseiter sind wir ganz besonders gefährlich.

  


Thomas Roost ist seit 1996 NHL-Scout für den Central Scouting Service und verfolgt die beste Liga der Welt hautnah.  Für MySports ist Roost als NHL-Experte & Co-Kommentator im Einsatz. In seiner wöchtenlichen Kolumne «Roosts Ramblings» schreibt er über Themen aus der NHL und der grossen Hockey-Welt.

https://www.thomasroost.com I Twitter: @thomasroost

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